Mit dem Herbst und den dunkler werdenden Tage wird die Erinnerung an das Fest der Geburt Gottes wieder lebendig. Auch die Weihnachtssüßigkeiten, die seit dem Spätsommer wieder angeboten werden, weisen unmißverständlich darauf hin. Viele reagieren darauf verständnislos und verstehen das viel zu frühe Auftauchen der Lebkuchen und Dominosteine und Weihnachtsmänner nicht. Meister Eckhart aber würde sagen: „Nur zu, denn Weihnachten ist immer und ohne Weihnachten ist nichts!“ Zugegeben, ohne Weihnachten kein Ostern und kein Pfingsten, kein Johannistag, kein Reformationstag mit Reformationsbrötchen und kein Martinstag mit Martinshörnchen und Advent mit Nikolaustag auch nicht und keine Weihnachtsmänner und auch kein Fasching bis Aschermittwoch vor der Passionszeit und es gäbe überhaupt kein Christentum. In jedem Augenblick der Wirklichkeit geht es um Gottes Gegenwart im Leben und das ist zumindest für Christinnen und Christen rund um den Globus bis heute von zentraler Bedeutung. Und Weihnachten ist ja tatsächlich für alle Menschen das schönste Fest. Mit Recht, so Eckhart. Er stellt die Geburt Gottes in den Mittelpunkt seiner Theologie. Diese Geburt geschieht zu allererst durch eine Frau namens Maria, die den Menschensohn Jesus zur Welt bringt, sodann aber auch in jedem Menschen selbst, in jedem Moment des Lebens, sagt Eckhart. Das Gebären ist das Herausgehen des Lebens von Gott, sein Wirken in der Welt, dass unsere Wirklichkeit schafft und erhält. Das permanente Schaffen und Wirken Gottes lässt die Welt leben. Das Wunder des Lebens, seine heilige Dimension wir in und an jedem Menschen offenbar. Gott wohnt jedem Atemzug, jeder Lebensäußerung der Kreaturen und jeder Existenz von Dingen in der Welt inne. Wenn der Mensch bei sich im Herzen für Gottes Wirken und Gebären keinen Platz lässt, dann gibt es Krieg. So war es auch bei den Kreuzzügen, wo Jesus von den Kreuzrittern nur äußerlich auf Fahnen und Emblemen vorangetragen wurde. An Jesu Zuwendung zu Andersgläubigen und Gottes Menschwerdung auch in ihnen dachte niemand.

Durch die Pandemie und weitere Krisen in der Welt hat sich unsere Lebensweise verändert. Hygieneregeln spielen jetzt eine viel größere Rolle und die Sehnsucht nach Frieden. Die Hoffnung ist groß, dass sich die Lage nicht zuspitzt. Lesen und Bewegung an frischer Luft werden wieder mehr geschätzt. Viele sind gerade jetzt im Sommer z.B. auch auf dem Nessetal-Radweg unterwegs, Fahrradgeschäfte machen gute Umsätze. Die Gottesdienste haben wieder mehr Gewicht, sind irgendwie intensiver, sehnsuchtsvoller; strahlen mehr Ruhe und Kraft aus. Offenheit und Staunen sind dabei, wo früher mehr Gewohnheit herrschte. Die Melodien und Texte der Lieder werden beim Singen bewußter wahrgenommen und das Beten ist ehrlicher.

Weihnachten ist die Geburt des göttlichen Wunders des Lebens im Menschen. Der Mensch ist zusammen mit der ganzen Schöpfung dazu berufen, in die Ganzheit der Liebe und die Gemeinschaft mit Gott zurückzukehren. Das neue Leben beginnt mit einem neuen zur-Welt-kommen, und gleichzeitig einem Zurückgebähren in Gottes Liebe durch Dankbarkeit und Lob. Mit der Geburt des Gotteskindes wird auch die Gotteskindschaft aller Menschen als Schwestern und Brüder Jesu offenbar. Das Leben wird geheiligt. Nach Eckhart muss der Versuch des Menschen, Gottes Willen aus eigener Kraft zu erfüllen, um damit Gnade und Frieden zu erlangen, scheitern. Vielmehr geht es um die Rückkehr des Menschen aus dem Gefängnis seiner Selbstbezogenheit und Zweckorientierung zum reinen kindlichen Unwissen und Urvertrauen, bei dem Gott in der Seele Platz findet  und er in sie eingeht. Ausgehend von „Un-Heimlichkeit“ – wörtlich dem „nicht zu Hause sein“, ist es Eckharts Bestreben, zu zeigen, dass der Mensch wieder zu einer Verbindung und Vereinigung im Sinne von „Ver-Heimlichung“ bei Gott gelangen kann. Denn der Mensch ist von Gott, er ist heilig. Alles, was den Menschen umgibt, das Leben selbst zusammen mit der ganzen Schöpfung der Natur ist heilig. Der Lambarene-Arzt und Theologe Albert Schweitzer spricht von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Antrieb und Motto für seine Arbeit. In der von ihm gegründeten Krankenstation, heute einem modernen Krankenhaus mit Kinderklinik und Geburtenstation in Gabun, Zentralafrika, hat er vielen Menschen geholfen und sie geheilt. Er war davon überzeugt, Gott wirkt und ist selbst das Leben, Leben ist seine „Wirk-Lichkeit“. Als Sprachgenie und Poet hat Eckhart selbst dieses Wort kreiert, wobei sich der Bedeutungsgehalt heute verschoben hat, wie z.B. auch bei seinen Wortschöpfungen Gelassenheit und Bildung im Mittelhochdeutschen. Die Wirklichkeit Gottes erneuert sich ständig und ist im Fluss. Das Gott in allem wirkt und schafft und damit allem erst einen Sinn gibt, drücken in anderer Weise die von unbekannter Hand geschriebenen Worte auf dem Nessetalradweg in der Nähe des alten Goldbacher Bahnhofs aus: „Alles ist Kunst“. Es sind die Worte eines der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler, Joseph Beuys. Eckharts Gedanken beeinflussen heute, 700 Jahre später, neben Philosophen (Heidegger, Husserl, Freud, Fromm, Henry, Derrida …) und Theologen (u.a. Karl Rahner, Dorothee Sölle) insbesondere viele bildende Künstler und Komponisten (z.B. John Cage). Bei Beuys hat der Satz noch eine Fortsetzung: „… und jeder Mensch ist ein Künstler“ – ein Kind Gottes, würde Eckhart sagen. Die weiße Farbe der Schrift auf dem Asphalt der Pilger-Radroute des Nessetal-Radweges verblasst seit einiger Zeit, sie sollte bald wieder aufgefrischt werden …