Mit der voranschreitenden Sommerzeit und den langsam kürzer werdenden Tagen kommt ganz allmählich das Fest der Geburt Gottes wieder in den Blick. Schon zum Johannistag, der „Sommerweihnacht“, blitzte Weihnachten kurz auf, durch die Geburt Johannes des Täufers, des Vorläufers von Jesus, ein halbes Jahr vor Heilig Abend. Bald werden nun auch die Weihnachtssüßigkeiten wieder angeboten und weisen unmißverständlich darauf hin. Viele reagieren darauf verständnislos und finden das Auftauchen der Lebkuchen, Dominosteine und Weihnachtsmänner schon im August einfach deplatziert. Meister Eckhart würde das wahrscheinlich nicht stören, im Gegenteil: Nur zu, würde er sagen, denn Weihnachten ist eigentlich immer und ohne Weihnachten ist nichts!“ Zugegeben, ohne Weihnachten kein Ostern und kein Pfingsten, kein Johannistag, kein Reformationstag mit Reformationsbrötchen und kein Martinstag mit Martinshörnchen und Advent mit Nikolaustag auch nicht und keine Weihnachtsmänner und auch kein Fasching bis Aschermittwoch vor der Passionszeit. Ja, ohne die Geburt des Gottes als Mensch gäbe es überhaupt kein Christentum. In jedem Augenblick der Wirklichkeit aber geht es um Gottes Gegenwart im Leben und das ist nicht nur für Christinnen und Christen rund um den Globus von großer Bedeutung. Weihnachten ist eigentlich für fast alle Menschen das schönste Fest. Mit Recht, so Eckhart. Er stellt die Geburt Gottes in den Mittelpunkt seiner Theologie. Diese Geburt geschieht zu allererst durch eine Frau namens Maria, die den Menschensohn Jesus zur Welt bringt, sodann aber auch in jedem Menschen selbst, in jedem Moment des Lebens, sagt Eckhart. Das Gebären ist das Herausgehen des Lebens von Gott, sein Wirken in der Welt, dass unsere Wirklichkeit schafft und erhält. Das permanente Schaffen und Wirken Gottes lässt die Welt leben. Das Wunder des Lebens, seine heilige Dimension wir in und an jedem Menschen offenbar. Gott wohnt jedem Atemzug, jeder Lebensäußerung der Kreaturen und jeder Existenz von Dingen in der Welt inne. Wenn der Mensch bei sich im Herzen für Gottes Wirken und Gebären keinen Platz lässt, dann gibt es Krieg. So war es auch bei den Kreuzzügen, wo Jesus von den Kreuzrittern nur äußerlich auf Fahnen und Emblemen vorangetragen wurde. An Jesu Zuwendung zu Andersgläubigen und Gottes Menschwerdung auch in ihnen dachte niemand.

Durch die Pandemie und weitere Krisen in der Welt hat sich unsere Lebensweise verändert. Hygieneregeln spielen jetzt eine viel größere Rolle und die Sehnsucht nach Frieden. Die Hoffnung ist groß, dass sich die Lage nicht zuspitzt. Lesen und Bewegung an frischer Luft werden wieder mehr geschätzt. Viele sind gerade jetzt im Sommer z.B. auch auf dem Nessetal-Radweg unterwegs, Fahrradgeschäfte machen gute Umsätze. Die Gottesdienste haben wieder mehr Gewicht, sind irgendwie intensiver, sehnsuchtsvoller; strahlen mehr Ruhe und Kraft aus. Offenheit und Staunen sind dabei, wo früher mehr Gewohnheit herrschte. Die Melodien und Texte der Lieder werden beim Singen bewußter wahrgenommen und das Beten ist ehrlicher.

Weihnachten ist die Geburt des göttlichen Wunders des Lebens im Menschen. Der Mensch ist zusammen mit der ganzen Schöpfung dazu berufen, in die Ganzheit der Liebe und die Gemeinschaft mit Gott zurückzukehren. Das neue Leben beginnt mit einem neuen zur-Welt-kommen, und gleichzeitig einem Zurückgebähren in Gottes Liebe durch Dankbarkeit und Lob. Mit der Geburt des Gotteskindes wird auch die Gotteskindschaft aller Menschen als Schwestern und Brüder Jesu offenbar. Das Leben wird geheiligt. Nach Eckhart muss der Versuch des Menschen, Gottes Willen aus eigener Kraft zu erfüllen, um damit Gnade und Frieden zu erlangen, scheitern. Vielmehr geht es um die Rückkehr des Menschen aus dem Gefängnis seiner Selbstbezogenheit und Zweckorientierung zum reinen kindlichen Unwissen und Urvertrauen, bei dem Gott in der Seele Platz findet  und er in sie eingeht. Ausgehend von „Un-Heimlichkeit“ – wörtlich dem „nicht zu Hause sein“, ist es Eckharts Bestreben, zu zeigen, dass der Mensch wieder zu einer Verbindung und Vereinigung im Sinne von „Ver-Heimlichung“ bei Gott gelangen kann. Denn der Mensch ist von Gott, er ist heilig. Alles, was den Menschen umgibt, das Leben selbst zusammen mit der ganzen Schöpfung der Natur ist heilig. Der Lambarene-Arzt und Theologe Albert Schweitzer spricht von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Antrieb und Motto für seine Arbeit. In der von ihm gegründeten Krankenstation, heute einem modernen Krankenhaus mit Kinderklinik und Geburtenstation in Gabun, Zentralafrika, hat er vielen Menschen geholfen und sie geheilt. Er war davon überzeugt, Gott wirkt und ist selbst das Leben, Leben ist seine „Wirk-Lichkeit“. Als Sprachgenie und Poet hat Eckhart selbst dieses Wort kreiert, wobei sich der Bedeutungsgehalt heute verschoben hat, wie z.B. auch bei seinen Wortschöpfungen Gelassenheit und Bildung im Mittelhochdeutschen. Die Wirklichkeit Gottes erneuert sich ständig und ist im Fluss. Das Gott in allem wirkt und schafft und damit allem erst einen Sinn gibt, drücken in anderer Weise die von unbekannter Hand geschriebenen Worte auf dem Nessetalradweg in der Nähe des alten Goldbacher Bahnhofs aus: „Alles ist Kunst“. Es sind die Worte eines der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler, Joseph Beuys. Eckharts Gedanken beeinflussen heute, 700 Jahre später, neben Philosophen (Heidegger, Husserl, Freud, Fromm, Henry, Derrida …) und Theologen (u.a. Karl Rahner, Dorothee Sölle) insbesondere viele bildende Künstler und Komponisten (z.B. John Cage). Bei Beuys hat der Satz noch eine Fortsetzung: „… und jeder Mensch ist ein Künstler“ – ein Kind Gottes, würde Eckhart sagen. Die weiße Farbe der Schrift auf dem Asphalt der Pilger-Radroute des Nessetal-Radweges verblasst seit einiger Zeit, sie sollte bald wieder aufgefrischt werden …